Sonntag, 30. September 2012

Behaußung und Kirchlen der armen Feldsiechen auf dem Espan

Zur Geschichte des Altenstädter Siechenhauses und Siechenkapelle
Vortrag zur Wiedereinweihung der Siechenkapelle am 21. September 2012 

Totgesagte leben bekanntlich länger. Dieser Allerweltspruch trifft für unsere Siechenkapelle in besonderem Maße zu. Bereits in der Oberamtsbeschreibung von 1842 heißt es: ‚Das Kirchlein, dem Einfallen nahe, dient noch als Scheuer.‘[1] und 1993 hat der frühere Kreisarchäologe Walter die Siechenkapelle an der B 10 ‚als traurigen Anblick eines ruinöses Gebäudes‘ beschrieben.[2]



Die Siechenkapelle 1993, vor der Restaurierung,
StA Geislingen

Die Straßenbauverwaltung hatte da bereits den Antrag auf Abriss des Gebäudes wegen Baufälligkeit gestellt. Doch der damalige Oberbürgermeister Martin Bauch und der damalige Vorsitzende des Kunst- und Geschichtsvereins Armin Beck ergriffen die Initiative, um das historisch bedeutsame Gebäude in Verbindung mit der Landesdenkmalpflege zu retten.

Im Juli 1993 kaufte die Stadt Geislingen die Kapelle und bereits im November desselben Jahres begann die notwendige Dach- und Außensanierung des Gebäudes.

Der Kunst- und Geschichtsverein sorgte mit einem Spendenaufruf dafür, dass der städtische Kostenaufwand für die Restaurierung der Kapelle erheblich gesenkt werden konnte. Über 40.000 DM wurden damals gespendet – ein gutes Zeichen dafür, dass die Geislinger Bürgerschaft diese Maßnahme zu schätzen wusste.

Beim Tag des Offenen Denkmals 1994 rückte die baulich restaurierte Siechenkapelle in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. Seither ist sie nicht nur für den Kunst- und Geschichtsverein, sondern auch für viele Altenstädter wieder zu einem kulturhistorischen Kleinod geworden, das auf eine lange wechselvolle Geschichte zurück blicken kann.

Heute ist der Tag gekommen, an dem die Siechenkapelle wieder an ihre sakrale Vergangenheit anknüpfen darf, nachdem sie 200 Jahre als profanes Nutzgebäude gedarbt hatte. Wir freuen uns darüber.

Dies ist zugleich der Anlass, einen Blick in die Geschichte des Altenstädter Siechenhauses zu werfen, die am Ortsende Altenstadts in Richtung Kuchen, unterhalb der Filsbrücke, gemeinhin als Siechenbrücke benannt, steht. Der zumindest in das 15. Jahrhundert zurück gehende Sakralbau, aus Tuffquadern und Bruchstein erbaut, war bis 1806 Bestandteil des erstmals 1398 erwähnten Siechenhauses der 'armen Feldsiechen auf dem Espan'. Es handelte sich um eine mittelalterliche Fürsorgeeinrichtung zur Eindämmung der damals in Mitteleuropa weit verbreiteten Lepra.


Naive Darstellung des Siechenhauses,
Ausschnitt aus der Federzeichnung
vom Michelberg und Umgebung, J. A. Schweizer, 1785,
StA Ulm

Wann das Siechenhaus erbaut wurde und wer es gestiftet hat, ist nicht bekannt. Man weiß nur, dass es 1398 ein Siechenhölzle auf dem Tegelberg gab und 1420 'Feldsiechen' existierten, denn in diesem Jahre machte Ulrich Mördlen zu Geislingen eine Stiftung für das 'Feldsiechenhaus zu der Altenstadt, an dem Espan gelegen.'[3]

Wie und woher sich der Flurname 'Espan', auch 'Aispan' oder 'Ehespan' geschrieben, erklärt, ist ungewiss. Eine mögliche Deutung könnte sich auf eine mit Espen oder Zitterpappeln bestandene Zugviehweide beziehen.[4] Medizinisch interessant ist dabei, dass die Rinde und die Blätter der Espen chemische Verbindungen von Salicylsäure enthalten, die schmerzstillend, entzündungshemmend und fiebersenkend wirken. Vielleicht war dies mit der Grund, gerade hier am Filsufer bei den Espen das Siechenhaus zu errichten.

1766 wurden die Gebäude und Einrichtungen der Altenstädter Siechenanlage im erneuerten Salbuch der Sondersiechenpflege auf dem Espan unter dem Titel 'Der Siechen Pfleeg aigene Gebäude'[5] beschrieben.

Die Anlage des wohl in der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts gegründeten Leprosoriums umfasste das eigentliche, 1398 erwähnte, 1604 neu errichtete und 1811 abgebrochene Siechenhaus. Es handelte sich um eine zweistockige Behausung, in der sich drei Stuben befanden 'nämlich eine in dem untern Stock, gegen der Landstraß aussehend, die zweite ob dieser in zweiter Etage, auch gegen die Straß, und die dritte, hinden gegen dem Garten hinaus, nebst weitern Kammern und Gemach'. Zum Siechenhaus gehörte noch ein 'einstocketes Bach- und Waschhauß, hinter der Behausung in dem Gartten stehend', in welchem sich 'nebst der Gelegenheit zum Bachen und Waschen ein Badstüblein' befand. Dazu gehörte eine Holzhütte unten am Haus gegen Kuchen, ein Schöpfbrunnen im Garten mit hölzernem Gestell und ein 'Baum-, Gras- und Wurtzgarten hinter dem Siechen Hauß' ungefähr ein Tagwerk groß und mit einem 'Gehäg umbfangen'.[6]


Naive Darstellung der Siechenkapelle,
Ausschnitt aus der Federzeichnung von Altenstadt,
J. A. Schweizer, 1785, StA Ulm

Die Kapelle gehörte zu dem nebenan stehenden Siechenhaus und war in erster Linie das Gotteshaus für die dort untergebrachten 'Sondersiechen'. Von diesem Gebäudeensemble blieb lediglich das Langhaus der einstigen Siechenkapelle erhalten, deren Chor ebenfalls 1811 abgebrochen wurde, um den Triumphbogen als Scheunentor zu verwenden. Sie wurde im Salbuch von 1766 wie folgt beschrieben:

'Ein kleines Kirchlein mit einem Eingang von Quaderstein erbaut, 45 Schuh lang, 26 Schuh breit und bis an das Dach 17 Schuh hoch (rund: 13,50 m lang, 7,60 m breit, 5 m hoch), das Türmlein bestehet nur aus zweyen oben gewölbten Mauerposten, in deren Miten ein Glöcklein zu 3 Ctr. gewicht frey hanget, solches Kirchlein hat:

1.     von außen gegen die Landstraß einen Eingang mit einer einfachen Tür.
2.     Einen Altar von Schreinwerk mit Kreuz und der Bildnis Christi.
3.     Ein Känzelein, auch von Schreinarbeit.
4.     Zwei Helllichter (Fenster) gegen der Landstraß.
5.     Seithen Stühle, zu etlich und 30 Personen.
6.     Die Kirchen Bühnen und Wandungen weiß.
7.     Das Pflaster von gebrandten Steinen.'[7]

Erste urkundliche Erwähnung findet die Siechenkapelle im Jahr 1471, als Bürgermeister und Rat der Reichsstadt Ulm in der der Jungfrau Maria, dem heiligen Nikolaus und der heiligen Barbara geweihten Kapelle eine Messpfründe stifteten.[8]


Südliche Eingangstür der Siechenkapelle
mit der Eselsrückennische darüber, 2012,
StA Geislingen
  
Die seelsorgerische Betreuung der von Anfang an nach Kuchen eingepfarrten Kapelle übernahm der dortige Pfarrer. Seit 1783 nahm das einstige Siechenhaus arme Personen aus Geislingen, Altenstadt und Kuchen auf. Im Jahre 1806 kam es zur Versteigerung des Siechenhauses samt Kapelle; 1811 wurden dann das Siechenhaus sowie der Chor der inzwischen profanierten Kapelle abgebrochen. Das Langhaus diente fortan als Scheuer.[9] Die südliche Längswand wird noch immer von einem spitzbogigen Portal geprägt, durch das man den Kirchenraum von der Straße her betrat. Die über dem Spitzbogen eingelassene Eselsrückennische trägt die Jahreszahl 1496. Diese Datierung dürfte mit einer Renovierung der Kapelle in Zusammenhang stehen.[10]


Weihekreuz in der Siechenkapelle, StA Geislingen

Im Innern des Kirchleins sind Reste bedeutender gotischer Wandmalereien erhalten, bei denen mindestens zwei Phasen unterschieden werden konnten. Auf der unteren älteren Putzschicht sind sechs kleeblattförmige Weihekreuze erhalten, deren Rund von der darüber liegenden zweiten Putzschicht ausgespart wurde.

 Ausschnitt aus dem Bilderzyklus
an der Nordseite der Kapelle, StA Geislingen

Auf dieser darüber liegenden Putzfläche zeigen sich heute noch Reste einer umfassenden Bemalung der Kapelle. Auf der Nordwand ist ein Passionszyklus von zehn quadratischen Feldern (1,25 m x 1,25 m) in zwei übereinander liegenden Reihen mit je fünf szenischen Darstellungen der Leidensgeschichte Jesu zu sehen. Die Bemalung der Ostwand lässt eine zierende Rahmung des Chorbogens mit Bänderfries und einer Darstellung des Jüngsten Gerichts erkennen mit dem über der Spitze des Bogens thronenden Weltenrichter und umgebenden Aposteln vor dem himmlischen Jerusalem. An den Wänden sieht man in unterschiedlicher Höhe verschiedene Röthelzeichen und Ein-gravierungen, die wohl von den Insassen des Leprosoriums herstammen dürften. Es wird angenommen, dass die Wandmalereien im Innern mit einer möglichen Renovierung der Kapelle im Jahr 1496 entstanden sind.[11]


Christus als Weltenrichter über dem Triumpfbogen
der Siechenkapelle, StA Geislingen

Mittelalterliche Siechenhäuser bzw. Leprosorien waren außerordentlich bedeutende Fürsorgeeinrichtungen. Der Aussatz (Lepra) war schon im frühen Mittelalter in Zentraleuropa stark verbreitet. Etwa um die Jahrtausendwende errichteten kirchliche Stiftungen außerhalb der Ortschaften im freien Feld Siechenhäuser. Die unheilbar Kranken wurden in einer religiösen Zeremonie aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und außerhalb der Besiedlung in solchen Bresthäusern ausgesetzt, daher der gebräuchliche biblische Krankheitsname 'Aussatz', In der immer dazugehörigen Kapelle wurden die Leprakranken seelsorgerisch betreut.

Der Ausschluss erfolgte nicht nur wegen der drohenden Ansteckungsgefahr, sondern auch wegen der körperlichen Verunstaltung, die diese Krankheit an den Menschen hervorrief. Man erschrak vor dem verstümmelten Antlitz, den schwärenden eitrigen Verkrüppelungen der Gliedmaßen und den übel riechenden Ausdünstungen dieser Menschen.

Zur Linderung der unheilbar Kranken kannte man im Mittelalter als Therapie lediglich Reinigungs- und Schwitzbäder sowie desinfizierende Kräuterwickel und zur Fiebersenkung das bekannte Schröpfen und Aderlassen.[12]

Mit Klappern und Rätschen machten sich die meist wegen ihren körperlichen Entstellungen in Lumpen verhüllten Aussätzigen bemerkbar und hofften durch Bettel die Barmherzigkeit der auf der Landstraße vorüber ziehenden Leute zu erreichen, indem sie ihnen einen an einem Stab angebrachten Beutel entgegen streckten und ein Almosen abverlangten.

Wie groß die Leiden dieser Menschen war, veranschaulicht das Schicksal des Siechenkaplans Johannes Zollmayer.

Zu Anfang des Jahres 1532 bat Johannes Zollmayer, Kaplan zu Altenstatt bei den guten Leuten (Siechen) 'ihm seine Jahresbesoldung quatemberlich (vierteljährlich) zu reichen, und ihm statt des Zehnten, den er Krankheit halber nicht einsammeln könne, eine bestimmte Summe Geldes zu geben, auch seiner Magd, die bisher redlich bei ihm ausgehalten und das Ihrige zugesetzt habe, 6 fl. zu geben. Er sei seit 9 Jahren bresthaft, die Nase sei ihm hinweggefault, auch der Rachen, deswegen er nimmer reden könne, er habe ein sehr böses Gehör, es gehe ihm ein Fluß aus dem Mund heraus, die Sohlen an den Füßen seien ihm auch abgefault, er sei krumm und lahm, könne weder gehen noch stehen, man müsse ihn heben und legen.' Die Bitte wurde gewährt. Am 8. März 1532 hat der 'Ehrsame Rat' von Ulm den Kaplan in das Siechenhaus nach Ulm genommen' und ihm von der Sondersiechenpfründ zu Altenstatt jährlich 15 fl. auf seinen Leib folgen lassen.'[13]


Die Siechenkapelle nach der Restaurierung,
2012, StA Geislingen

1766 befanden sich im Siechenhaus Leonhard Scheiblen von Altenstadt, Maria Elisabetha Brücknerin von Geislingen, Sigmund Steidlen und Johannes Scheufelen von Kuchen. Ob sie noch leprakrank waren, ist zu bezweifeln, denn Anfang des 18. Jahrhunderts starb bei uns diese Krankheit aus und das Altenstädter Siechenhaus wurde danach zur Unterbringung von versorgungsbedürftigen Armen und Kranken aus Geislingen, Altenstadt und Kuchen verwendet.[14]

Die einstige Siechenkapelle bei Altenstadt veranschaulicht uns heute als letztes noch vorhandenen Baurelikts diese dort über mehr als vier Jahrhunderte betriebenen soziale Fürsorgeeinrichtung. Vergleichbare Bauten sind heute nur noch vereinzelt überliefert. So existiert im gesamten Regierungsbezirk Stuttgart nur noch eine weitere ehemalige Siechenkapelle in Waiblingen aus dem Jahre 1473.

Zu guter Letzt sei noch auf die doch etwas schillernde Bedeutung des Wortes 'Siach' im Schwäbischen Volksmund hingewiesen.

Die landläufige Bedeutung von 'siech' bedeutet, laut Schwäbischem Wörterbuch, krank, schwach, der öffentlichen Verpflegung und Unterbringung bedürftig, aber auch bei Lebensmitteln: nicht mehr frisch, verdorben.

Im schwäbischen Volksmund ist der 'Siech oder Siach' ein gebräuchliches Schimpfwort und eine starke Schelte für Männer, die als hinterhältig und durchtrieben gelten. Das Schimpfwort wird gern verstärkt mit Adjektiven wie: elender, schlechter, verfluchter, verreckter, wüster, weihtageter, dummer, fauler, abgeschlagener oder wullener Siach.[15]

Für die einstigen Insassen des Altenstädter Siechenhauses wollen wir aber diese abfälligen Bezeichnungen bestimmt nicht gelten lassen.

Anmerkungen:


[1]Beschreibung des Oberamts Geislingen, 1842 S. 215
[2]Lang, Walter: Die Siechenkapelle bei Altenstadt – Das letzte Zeugnis spätmittelalterlicher Leprosenbetreuung, in Gruber, Hartmut et. al.: Von Gizelingen zum Ulmer Tor – Spurensuche im mittelalterlichen Geislingen, Begleitheft zur gleichnamigen 9. Weihnachtsausstellung, 1993, S. 55ff.
[3]Schöllkopf, Christian: Von der früheren Siechenkapelle bei Altenstadt und ihrer Umgebung, in: Geschichtliche Mitteilungen von Geislingen und seiner Umgebung, Heft 3, 1931, S. 107
[4]Schöllkopf, S. 113; Burkhardt, Georg: Geschichte der Stadt Geislingen, Bd. 1, 1963, S. 396
[5]StA. Geislingen, Akten und Bände des Heilig-Geist-Spitals Geislingen, Bestand H, 796, Saal-Buch über der Sondersiechenpfleeg auf dem Ehespan unter Altenstadt, Bl. 123f.
[6]ebenda: Bl. 123a,b
[7]ebenda: Bl. 123b, 124a
[8]StA. Geislingen, S 050, E2 126, Gutachten der Landesdenkmalbehörde Baden-Württemberg zum Erhaltungszustand der Siechenkapelle, 1988, Manuskript S. 1; Gruber, Hartmut: Die Altenstädter Siechenkapelle siecht dahin, in: Hohenstaufen/Helfenstein, Bd. 2, 1992, S. 242f.
[9]Oberamtsbeschreibung S. 214f.
[10]Gutachten der Landesdenkmalbehörde S. 1
[11]Gutachten der Landesdenkmalbehörde S. 4, 6 und 16
[12]Lang, S. 55f.
[13]Schöllkopf, S. 106
[14]Schöllkopf, S. 108
[15]Fischer, Hermann: Schwäbisches Wörterbuch, Bd. V, S.1393, linke Spalte

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