Sonntag, 30. September 2012

Behaußung und Kirchlen der armen Feldsiechen auf dem Espan

Zur Geschichte des Altenstädter Siechenhauses und Siechenkapelle
Vortrag zur Wiedereinweihung der Siechenkapelle am 21. September 2012 

Totgesagte leben bekanntlich länger. Dieser Allerweltspruch trifft für unsere Siechenkapelle in besonderem Maße zu. Bereits in der Oberamtsbeschreibung von 1842 heißt es: ‚Das Kirchlein, dem Einfallen nahe, dient noch als Scheuer.‘[1] und 1993 hat der frühere Kreisarchäologe Walter die Siechenkapelle an der B 10 ‚als traurigen Anblick eines ruinöses Gebäudes‘ beschrieben.[2]



Die Siechenkapelle 1993, vor der Restaurierung,
StA Geislingen

Die Straßenbauverwaltung hatte da bereits den Antrag auf Abriss des Gebäudes wegen Baufälligkeit gestellt. Doch der damalige Oberbürgermeister Martin Bauch und der damalige Vorsitzende des Kunst- und Geschichtsvereins Armin Beck ergriffen die Initiative, um das historisch bedeutsame Gebäude in Verbindung mit der Landesdenkmalpflege zu retten.

Im Juli 1993 kaufte die Stadt Geislingen die Kapelle und bereits im November desselben Jahres begann die notwendige Dach- und Außensanierung des Gebäudes.

Der Kunst- und Geschichtsverein sorgte mit einem Spendenaufruf dafür, dass der städtische Kostenaufwand für die Restaurierung der Kapelle erheblich gesenkt werden konnte. Über 40.000 DM wurden damals gespendet – ein gutes Zeichen dafür, dass die Geislinger Bürgerschaft diese Maßnahme zu schätzen wusste.

Beim Tag des Offenen Denkmals 1994 rückte die baulich restaurierte Siechenkapelle in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. Seither ist sie nicht nur für den Kunst- und Geschichtsverein, sondern auch für viele Altenstädter wieder zu einem kulturhistorischen Kleinod geworden, das auf eine lange wechselvolle Geschichte zurück blicken kann.

Heute ist der Tag gekommen, an dem die Siechenkapelle wieder an ihre sakrale Vergangenheit anknüpfen darf, nachdem sie 200 Jahre als profanes Nutzgebäude gedarbt hatte. Wir freuen uns darüber.

Dies ist zugleich der Anlass, einen Blick in die Geschichte des Altenstädter Siechenhauses zu werfen, die am Ortsende Altenstadts in Richtung Kuchen, unterhalb der Filsbrücke, gemeinhin als Siechenbrücke benannt, steht. Der zumindest in das 15. Jahrhundert zurück gehende Sakralbau, aus Tuffquadern und Bruchstein erbaut, war bis 1806 Bestandteil des erstmals 1398 erwähnten Siechenhauses der 'armen Feldsiechen auf dem Espan'. Es handelte sich um eine mittelalterliche Fürsorgeeinrichtung zur Eindämmung der damals in Mitteleuropa weit verbreiteten Lepra.


Naive Darstellung des Siechenhauses,
Ausschnitt aus der Federzeichnung
vom Michelberg und Umgebung, J. A. Schweizer, 1785,
StA Ulm

Wann das Siechenhaus erbaut wurde und wer es gestiftet hat, ist nicht bekannt. Man weiß nur, dass es 1398 ein Siechenhölzle auf dem Tegelberg gab und 1420 'Feldsiechen' existierten, denn in diesem Jahre machte Ulrich Mördlen zu Geislingen eine Stiftung für das 'Feldsiechenhaus zu der Altenstadt, an dem Espan gelegen.'[3]

Wie und woher sich der Flurname 'Espan', auch 'Aispan' oder 'Ehespan' geschrieben, erklärt, ist ungewiss. Eine mögliche Deutung könnte sich auf eine mit Espen oder Zitterpappeln bestandene Zugviehweide beziehen.[4] Medizinisch interessant ist dabei, dass die Rinde und die Blätter der Espen chemische Verbindungen von Salicylsäure enthalten, die schmerzstillend, entzündungshemmend und fiebersenkend wirken. Vielleicht war dies mit der Grund, gerade hier am Filsufer bei den Espen das Siechenhaus zu errichten.

1766 wurden die Gebäude und Einrichtungen der Altenstädter Siechenanlage im erneuerten Salbuch der Sondersiechenpflege auf dem Espan unter dem Titel 'Der Siechen Pfleeg aigene Gebäude'[5] beschrieben.

Die Anlage des wohl in der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts gegründeten Leprosoriums umfasste das eigentliche, 1398 erwähnte, 1604 neu errichtete und 1811 abgebrochene Siechenhaus. Es handelte sich um eine zweistockige Behausung, in der sich drei Stuben befanden 'nämlich eine in dem untern Stock, gegen der Landstraß aussehend, die zweite ob dieser in zweiter Etage, auch gegen die Straß, und die dritte, hinden gegen dem Garten hinaus, nebst weitern Kammern und Gemach'. Zum Siechenhaus gehörte noch ein 'einstocketes Bach- und Waschhauß, hinter der Behausung in dem Gartten stehend', in welchem sich 'nebst der Gelegenheit zum Bachen und Waschen ein Badstüblein' befand. Dazu gehörte eine Holzhütte unten am Haus gegen Kuchen, ein Schöpfbrunnen im Garten mit hölzernem Gestell und ein 'Baum-, Gras- und Wurtzgarten hinter dem Siechen Hauß' ungefähr ein Tagwerk groß und mit einem 'Gehäg umbfangen'.[6]


Naive Darstellung der Siechenkapelle,
Ausschnitt aus der Federzeichnung von Altenstadt,
J. A. Schweizer, 1785, StA Ulm

Die Kapelle gehörte zu dem nebenan stehenden Siechenhaus und war in erster Linie das Gotteshaus für die dort untergebrachten 'Sondersiechen'. Von diesem Gebäudeensemble blieb lediglich das Langhaus der einstigen Siechenkapelle erhalten, deren Chor ebenfalls 1811 abgebrochen wurde, um den Triumphbogen als Scheunentor zu verwenden. Sie wurde im Salbuch von 1766 wie folgt beschrieben:

'Ein kleines Kirchlein mit einem Eingang von Quaderstein erbaut, 45 Schuh lang, 26 Schuh breit und bis an das Dach 17 Schuh hoch (rund: 13,50 m lang, 7,60 m breit, 5 m hoch), das Türmlein bestehet nur aus zweyen oben gewölbten Mauerposten, in deren Miten ein Glöcklein zu 3 Ctr. gewicht frey hanget, solches Kirchlein hat:

1.     von außen gegen die Landstraß einen Eingang mit einer einfachen Tür.
2.     Einen Altar von Schreinwerk mit Kreuz und der Bildnis Christi.
3.     Ein Känzelein, auch von Schreinarbeit.
4.     Zwei Helllichter (Fenster) gegen der Landstraß.
5.     Seithen Stühle, zu etlich und 30 Personen.
6.     Die Kirchen Bühnen und Wandungen weiß.
7.     Das Pflaster von gebrandten Steinen.'[7]

Erste urkundliche Erwähnung findet die Siechenkapelle im Jahr 1471, als Bürgermeister und Rat der Reichsstadt Ulm in der der Jungfrau Maria, dem heiligen Nikolaus und der heiligen Barbara geweihten Kapelle eine Messpfründe stifteten.[8]


Südliche Eingangstür der Siechenkapelle
mit der Eselsrückennische darüber, 2012,
StA Geislingen
  
Die seelsorgerische Betreuung der von Anfang an nach Kuchen eingepfarrten Kapelle übernahm der dortige Pfarrer. Seit 1783 nahm das einstige Siechenhaus arme Personen aus Geislingen, Altenstadt und Kuchen auf. Im Jahre 1806 kam es zur Versteigerung des Siechenhauses samt Kapelle; 1811 wurden dann das Siechenhaus sowie der Chor der inzwischen profanierten Kapelle abgebrochen. Das Langhaus diente fortan als Scheuer.[9] Die südliche Längswand wird noch immer von einem spitzbogigen Portal geprägt, durch das man den Kirchenraum von der Straße her betrat. Die über dem Spitzbogen eingelassene Eselsrückennische trägt die Jahreszahl 1496. Diese Datierung dürfte mit einer Renovierung der Kapelle in Zusammenhang stehen.[10]


Weihekreuz in der Siechenkapelle, StA Geislingen

Im Innern des Kirchleins sind Reste bedeutender gotischer Wandmalereien erhalten, bei denen mindestens zwei Phasen unterschieden werden konnten. Auf der unteren älteren Putzschicht sind sechs kleeblattförmige Weihekreuze erhalten, deren Rund von der darüber liegenden zweiten Putzschicht ausgespart wurde.

 Ausschnitt aus dem Bilderzyklus
an der Nordseite der Kapelle, StA Geislingen

Auf dieser darüber liegenden Putzfläche zeigen sich heute noch Reste einer umfassenden Bemalung der Kapelle. Auf der Nordwand ist ein Passionszyklus von zehn quadratischen Feldern (1,25 m x 1,25 m) in zwei übereinander liegenden Reihen mit je fünf szenischen Darstellungen der Leidensgeschichte Jesu zu sehen. Die Bemalung der Ostwand lässt eine zierende Rahmung des Chorbogens mit Bänderfries und einer Darstellung des Jüngsten Gerichts erkennen mit dem über der Spitze des Bogens thronenden Weltenrichter und umgebenden Aposteln vor dem himmlischen Jerusalem. An den Wänden sieht man in unterschiedlicher Höhe verschiedene Röthelzeichen und Ein-gravierungen, die wohl von den Insassen des Leprosoriums herstammen dürften. Es wird angenommen, dass die Wandmalereien im Innern mit einer möglichen Renovierung der Kapelle im Jahr 1496 entstanden sind.[11]


Christus als Weltenrichter über dem Triumpfbogen
der Siechenkapelle, StA Geislingen

Mittelalterliche Siechenhäuser bzw. Leprosorien waren außerordentlich bedeutende Fürsorgeeinrichtungen. Der Aussatz (Lepra) war schon im frühen Mittelalter in Zentraleuropa stark verbreitet. Etwa um die Jahrtausendwende errichteten kirchliche Stiftungen außerhalb der Ortschaften im freien Feld Siechenhäuser. Die unheilbar Kranken wurden in einer religiösen Zeremonie aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und außerhalb der Besiedlung in solchen Bresthäusern ausgesetzt, daher der gebräuchliche biblische Krankheitsname 'Aussatz', In der immer dazugehörigen Kapelle wurden die Leprakranken seelsorgerisch betreut.

Der Ausschluss erfolgte nicht nur wegen der drohenden Ansteckungsgefahr, sondern auch wegen der körperlichen Verunstaltung, die diese Krankheit an den Menschen hervorrief. Man erschrak vor dem verstümmelten Antlitz, den schwärenden eitrigen Verkrüppelungen der Gliedmaßen und den übel riechenden Ausdünstungen dieser Menschen.

Zur Linderung der unheilbar Kranken kannte man im Mittelalter als Therapie lediglich Reinigungs- und Schwitzbäder sowie desinfizierende Kräuterwickel und zur Fiebersenkung das bekannte Schröpfen und Aderlassen.[12]

Mit Klappern und Rätschen machten sich die meist wegen ihren körperlichen Entstellungen in Lumpen verhüllten Aussätzigen bemerkbar und hofften durch Bettel die Barmherzigkeit der auf der Landstraße vorüber ziehenden Leute zu erreichen, indem sie ihnen einen an einem Stab angebrachten Beutel entgegen streckten und ein Almosen abverlangten.

Wie groß die Leiden dieser Menschen war, veranschaulicht das Schicksal des Siechenkaplans Johannes Zollmayer.

Zu Anfang des Jahres 1532 bat Johannes Zollmayer, Kaplan zu Altenstatt bei den guten Leuten (Siechen) 'ihm seine Jahresbesoldung quatemberlich (vierteljährlich) zu reichen, und ihm statt des Zehnten, den er Krankheit halber nicht einsammeln könne, eine bestimmte Summe Geldes zu geben, auch seiner Magd, die bisher redlich bei ihm ausgehalten und das Ihrige zugesetzt habe, 6 fl. zu geben. Er sei seit 9 Jahren bresthaft, die Nase sei ihm hinweggefault, auch der Rachen, deswegen er nimmer reden könne, er habe ein sehr böses Gehör, es gehe ihm ein Fluß aus dem Mund heraus, die Sohlen an den Füßen seien ihm auch abgefault, er sei krumm und lahm, könne weder gehen noch stehen, man müsse ihn heben und legen.' Die Bitte wurde gewährt. Am 8. März 1532 hat der 'Ehrsame Rat' von Ulm den Kaplan in das Siechenhaus nach Ulm genommen' und ihm von der Sondersiechenpfründ zu Altenstatt jährlich 15 fl. auf seinen Leib folgen lassen.'[13]


Die Siechenkapelle nach der Restaurierung,
2012, StA Geislingen

1766 befanden sich im Siechenhaus Leonhard Scheiblen von Altenstadt, Maria Elisabetha Brücknerin von Geislingen, Sigmund Steidlen und Johannes Scheufelen von Kuchen. Ob sie noch leprakrank waren, ist zu bezweifeln, denn Anfang des 18. Jahrhunderts starb bei uns diese Krankheit aus und das Altenstädter Siechenhaus wurde danach zur Unterbringung von versorgungsbedürftigen Armen und Kranken aus Geislingen, Altenstadt und Kuchen verwendet.[14]

Die einstige Siechenkapelle bei Altenstadt veranschaulicht uns heute als letztes noch vorhandenen Baurelikts diese dort über mehr als vier Jahrhunderte betriebenen soziale Fürsorgeeinrichtung. Vergleichbare Bauten sind heute nur noch vereinzelt überliefert. So existiert im gesamten Regierungsbezirk Stuttgart nur noch eine weitere ehemalige Siechenkapelle in Waiblingen aus dem Jahre 1473.

Zu guter Letzt sei noch auf die doch etwas schillernde Bedeutung des Wortes 'Siach' im Schwäbischen Volksmund hingewiesen.

Die landläufige Bedeutung von 'siech' bedeutet, laut Schwäbischem Wörterbuch, krank, schwach, der öffentlichen Verpflegung und Unterbringung bedürftig, aber auch bei Lebensmitteln: nicht mehr frisch, verdorben.

Im schwäbischen Volksmund ist der 'Siech oder Siach' ein gebräuchliches Schimpfwort und eine starke Schelte für Männer, die als hinterhältig und durchtrieben gelten. Das Schimpfwort wird gern verstärkt mit Adjektiven wie: elender, schlechter, verfluchter, verreckter, wüster, weihtageter, dummer, fauler, abgeschlagener oder wullener Siach.[15]

Für die einstigen Insassen des Altenstädter Siechenhauses wollen wir aber diese abfälligen Bezeichnungen bestimmt nicht gelten lassen.

Anmerkungen:


[1]Beschreibung des Oberamts Geislingen, 1842 S. 215
[2]Lang, Walter: Die Siechenkapelle bei Altenstadt – Das letzte Zeugnis spätmittelalterlicher Leprosenbetreuung, in Gruber, Hartmut et. al.: Von Gizelingen zum Ulmer Tor – Spurensuche im mittelalterlichen Geislingen, Begleitheft zur gleichnamigen 9. Weihnachtsausstellung, 1993, S. 55ff.
[3]Schöllkopf, Christian: Von der früheren Siechenkapelle bei Altenstadt und ihrer Umgebung, in: Geschichtliche Mitteilungen von Geislingen und seiner Umgebung, Heft 3, 1931, S. 107
[4]Schöllkopf, S. 113; Burkhardt, Georg: Geschichte der Stadt Geislingen, Bd. 1, 1963, S. 396
[5]StA. Geislingen, Akten und Bände des Heilig-Geist-Spitals Geislingen, Bestand H, 796, Saal-Buch über der Sondersiechenpfleeg auf dem Ehespan unter Altenstadt, Bl. 123f.
[6]ebenda: Bl. 123a,b
[7]ebenda: Bl. 123b, 124a
[8]StA. Geislingen, S 050, E2 126, Gutachten der Landesdenkmalbehörde Baden-Württemberg zum Erhaltungszustand der Siechenkapelle, 1988, Manuskript S. 1; Gruber, Hartmut: Die Altenstädter Siechenkapelle siecht dahin, in: Hohenstaufen/Helfenstein, Bd. 2, 1992, S. 242f.
[9]Oberamtsbeschreibung S. 214f.
[10]Gutachten der Landesdenkmalbehörde S. 1
[11]Gutachten der Landesdenkmalbehörde S. 4, 6 und 16
[12]Lang, S. 55f.
[13]Schöllkopf, S. 106
[14]Schöllkopf, S. 108
[15]Fischer, Hermann: Schwäbisches Wörterbuch, Bd. V, S.1393, linke Spalte

Samstag, 29. September 2012

Scherben schreiben Geschichte

handgemachte Keramik des frühen Mittelalters
aus Geislingen (Foto R. Schreg)
Entscheidend für unsere Kenntnis des frühmittelalterlichen Geislingen sind neben einigen Grabfunden des 6. und 7. Jahrhunderts vor allem unscheinbare Keramikfunde. Sie weisen auf ein Siedlungsareal in den ehemaligen Mühlwiesen (heute: nördliche Kantstraße). Vor allem Albert Kley konnte hier mehrfach Siedlungsreste dokumentieren. Über ihr Alter geben zerbrochene Töpfe Auskunft. Anhand von Form und Machart lassen sich die Scherben zeitlich eingrenzen.

Auf dem Blog Archaeologik sind Beispiele verschiedener Keramiksorten aus Geislingen zusammengetragen:

Rainer Schreg 

Freitag, 28. September 2012

Kurzer Abriss der Geschichte von Geislingen


 
Seit der späten Bronzezeit, der Urnenfelderzeit, sind im Geislinger Talkessel Siedlungsflächen durch archäologische Funde nachzuweisen. Eine kontinuierliche Besiedlung ist jedoch erst seit dem 5. Jahrhundert mit der Landnahme der Alamannen zu verzeichnen, als aus drei oder vier merowingischer Ansiedlungen in karolingischer Zeit das Dorf Giselingen, der heutige Stadtteil Altenstadt, entstand.

So gibt die Erwähnung einer Schenkung der 'Mechtildis de Giselingen' in einer nicht mehr erhaltenen Blaubeurer Urkunde aus dem Jahre 1108 den ersten Hinweis auf den damals bereits existierenden Ort Giselingen, heute Geislingen-Altenstadt, und mit dieser Namensnennung entsteht gewissermaßen der Schauplatz der Geschichte unserer Stadt, die mit dem Datum 7. November 1108 auf eine über 900jährige Geschichte zurückblicken kann.

Zur gleichen Zeit wurde um 1100 die Burg Helfenstein zur Sicherung der wichtigen alten Römerstraße erbaut, der Weiler Steige, die den Aufstieg auf die Alb ermöglichte. Dieser Albaufstieg und die spätere Reichsstraße durch das Rohrachtal nach Ulm wurden seit dem 12. Jahrhundert immer wichtiger und schließlich maßgeblich für das Entstehen der Stadt Geislingen. Zur Sicherung der Reichsstraße nach Ulm wurde von den Grafen von Helfenstein um 1171 eine Zollstation angelegt, an der später seit dem 15. Jahrhundert der 'Alte Zoll' errichtet ist. In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts entstand um die Zollstation entlang der Reichsstraße eine befestigte städtische Siedlung, die 1237 erstmals urkundlich erwähnt worden ist, als hier, 'apud giselingen', der Stauferkaiser Friedrich II. eine Urkunde an den Bischof von Bamberg ausstellen ließ.



Urkunde Friedrichs II. von Staufen,
ausgestellt am 18. Mai 1237 in Geislingen


Spätestens um 1250 war die rechteckige Stadtanlage von einer rund sechs Meter hohen Mauer umgeben und mit Türmen gesichert. Im 14. Jahrhundert wurde Geislingen nördlich und südlich der Stadtanlage durch zwei dreieckige Handwerkervorstädte erweitert. Die Grafen von Helfenstein waren die Begründer der Stadt und hatten sie fast 200 Jahre in Besitz. 1382 mussten sie ihre Herrschaft an die Reichsstadt Ulm verpfänden und schließlich 1396 an die Ulmer verkaufen.

Die freie Reichstadt Ulm war im 15. Jahrhundert reich und dem ulmischen Landstädtchen Geislingen bekam dies recht gut. In dieser Zeit wurden prächtige Fachwerkhäuser wie das Alte Rathaus (1422), die Stadtkirche (1424–1428) und der Alte Zoll (1495) erbaut. Doch der 30jährige Krieg und die Franzosennot im 18. Jahrhundert sorgten für den Niedergang der ulmischen Reichsstadtherrlichkeit.



Geißlingen und das Schloß Helffenstein
Gouache aus dem 16. Jh., StA Ulm


Bedeutend für Geislingen war die Beindrechslerei und Elfenbeinschnitzerkunst, deren Produkte weit über die Stadt hinaus berühmt waren. Von 1763 bis 1769 lebte der Dichter, Journalist und Musiker Daniel Friedrich Christian Schubart in Geislingen. Er unterrichtete hier die Geislinger Schuljugend und er heiratete Helene Bühler, eine Tochter der Stadt. An ihn erinnert das Schubarthaus.

Ab 1780 wurden die Geislinger Stadtmauern und Türme abgebrochen. 1802 wurde Geislingen zunächst bayerisch, dann 1810 württembergisch. Damit begann eine neue Zeit. Geislingen wurde Oberamtsstadt, und das Oberamt Geislingen existierte bis 1938, als es schließlich zum Kreis Göppingen zugeschlagen wurde.



Bilderchronik Dampfzug auf der Geislinger Steige
Lithographie 1850


Nach Jahrzehnten der wirtschaftlichen Stagnation zu Beginn des 19. Jahrhunderts brachte der Eisenbahnbau – die Geislinger Steige wurde von 1847 bis 1850 erbaut – industriellen Aufschwung. 1850 wurde von Daniel Straub in der Kapellmühle die Maschinenfabrik Geislingen gegründet, und 1853 entstand aus der Ölmühle unterhalb der Stadt die Plaquéfabrik Straub & Schweizer, aus der 1880 die Württembergische Metallwarenfabrik (WMF) hervorging.

In Altenstadt sorgte die Industriellenfamilie Staub aus Zürich für die Entstehung der Textilindustrie im Filstal. 1852 erbaute Johann Heinrich Staub mit seinen Söhnen die Mechanische Spinnerei Altenstadt und wenige Jahre später entstand die Mechanische Weberei Kuchen, 1857 von Arnold Staub gegründet.

Die Industrialisierung brachte der Stadt neuen Aufschwung und innerhalb weniger Jahrzehnte wuchs die Stadtbürgerschaft durch den Zuzug von Arbeitern, die in der MAG und der WMF ihr Einkommen hatten auf das Fünffache an. Zugleich war die Industrialisierung eine nicht endende Herausforderung für die Stadtväter, denn es galt die ständige Wohnungsnot zu lindern und neue öffentliche Einrichtungen zur Versorgung, Betreuung und Bildung der Bürgerschaft zu errichten.



Kapellmühle und Maschinenfabrik von Daniel Straub um 1860
Stahlstich von Kappis


1912 wurde Altenstadt eingemeindet. Im Seebach entstand ein neues Wohnquartier. Gas- Wasser und Elektrizitätswerke entstanden, neue Kirchen, Schul- und Bildungseinrichtungen, Gerichts- und Verwaltungsgebäude, Bäder und Sportanlagen, das Kreiskrankenhaus, Kindergärten und Sozialeinrichtungen und vieles mehr wurden gebaut. Durch neue Wohngebiete und Gewerbe- und Industrieansiedlungen wurde nach und nach der gesamte Talkessel besiedelt. Mit dem Karls- und Staufenstollen begann in den 1920er und 1930er Jahren der Eisenerzabbau im Michelsberg, der zu neuem Zuzug von Bergleuten aus allen Revieren Deutschlands führte und für die neue Wohnquartiere in Altenstadt errichtet wurden.

Die Stadt blieb zwar im Zweiten Weltkrieg vom Bombenhagel verschont, aber die Not der unmittelbaren Nachkriegszeit brachte neue Herausforderungen mit sich. So wurden in Geislingen die aus ihrer Heimat geflohenen Esten einquartiert und ein ganzes Heer von Flüchtlingen aus den deutschen Ostgebieten mussten in der Stadt untergebracht werden. Die Währungsreform 1948 und die Gründung der Bundesrepublik brachte in den 1950er und 1960er Jahren durch den Wiederaufbau den wirtschaftlichen Aufschwung mit sich und für alle Bevölkerungsschichten zunehmende Prosperität. Das selbst erbaute Eigenheim, der ersparte neue PKW und die jährliche Urlaubsreise waren wie andernorts Ausdruck des allgemeinen Wohlstands.

Dieser Wirtschaftsboom brauchte zunehmend Arbeitskräfte, die zunächst als Gastarbeiter aus den südeuropäischen Nachbarstaaten hierher nach Geislingen kamen und ihre Familien nachkommen ließen. In den 1970er Jahren waren es dann vorwiegend türkische Gastarbeiter und mit dem Fall der Berliner Mauer kamen deutschrussische Familien nach Geislingen. Sie alle fanden hier samt ihren Familien ihre neue Heimat, wenngleich auch die Integration dieser Migrantenfamilien nun in der dritten Generation zu einer Herausforderung für die Geislinger Bürgerschaft geworden ist, denn der bei über 20 Prozent liegende Ausländeranteil der Stadtbevölkerung muss verkraftet werden.



Fünftälerstadt Geislingen um 1990
Blick über die Altstadt ins mittlere Filstal


Brachte die Nachkriegszeit den wirtschaftlichen Aufschwung, so begann in den 1980er Jahren die Stadt allmählich ihre Prosperität zu verlieren. Infolge der Verwaltungsreform von 1972, die der Stadt Geislingen kaum weitere Entfaltungsmöglichkeiten zukommen ließ, mit dem Wegzug der Heidelberger Druckmaschinen AG 1985/86 und dem Ausbluten der hiesigen mittelständischen Betriebe brachen anfangs der 1990er Jahre die steuerlichen Einnahmequellen der Stadt so drastisch ein, dass bis heute keine nachhaltige Erholung zu verzeichnen ist. Dieser langjährige Aderlass hat dazu geführt, dass die Stadt Geislingen inzwischen zu den ärmsten Mittelstädten Baden-Württembergs zählt und aufgrund der schwachen strukturellen Situation wohl kaum mehr in der Lage sein wird, diese Verluste im Vergleich zu anderen Städten wettzumachen.

Wichtige Gegenmaßnahmen wie der Ansiedlung der Fachhochschule Nürtingen-Geislingen oder die Ausweisung neuer interkommunaler Gewerbegebiete und die endlich zu erwartende Umgehungsstraße mit dem Ausbau der B10, die für die Entwicklung der Stadt höchst bedeutsam sind, werden allerdings erst langfristig Wirkung zeigen.

Heute leben in der großen Kreisstadt Geislingen rund 27 350 Einwohner.





Tag des offenen Denkmals: Der Alte Zoll in Geislingen

Am Sonntag, 9. September 2012 fand der diesjährige 'Tag des offenen Denkmals' unter dem Motto 'Holz' statt. In Geislingen wurde der Alte Zoll, ein Fachwerkhaus aud dem 15. Jahrhundert, erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Das Interesse war groß. Insgesamt besichtigten 411 Besucher die sieben Stockwerke des Gebäudes, das die Stadt Geislingen erst im Sommer diesen Jahres erworben hat. Vertreter der Stadt Geislingen und Mitglieder des Kunst- und Geschichtsvereins sorgten dafür, dass wissenswerte Informationen beim Publikum Gehör finden und viele Fragen beantwortet werden konnten.

Zur Geschichte des Alten Zolls und seiner ehemaligen Einwohner wurde folgendes Referat vorgetragen:




Der Alte Zoll

Dieses repräsentative Gebäude mit sieben Stockwerken wurde im Zentrum der Stadt anstelle des ehemaligen helfensteinischen Zollgebäudes in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts im alamannischen Fachwerkstil errichtet. Der Kasten besteht aus drei Stockwerken von denen das unterste aus Stein gebaut ist. Darüber befinden sich vier Dachstockwerke, die einst als Speicher gedient haben.

Das Giebelfachwerk ist in gotisch-alamannischer Bauweise errichtet, d.h. die Stockwerksständer sind in ihrer lasttragenden Statik durch eingesetzte Verplattungen stabilisiert. Diese kunstvollen Verplattungen haben die Form von Eichenlaub, und es ist gewiss hohe Zimmermannskunst, solche geschwungenen Verplattungen sowohl in ihrer negativen wie positiven Form passend genau herzustellen und ineinander zu fügen, so dass der Hausgiebel als Schmuckfassade zur Straße hin wirkt.

Der Alte Zoll in Geislingen
kurz nach der Renovierung um 1960

Diese besondere Ausführung eines gotischen Fachwerks deutet darauf hin, dass der Alte Zoll im Gegensatz zum Alten Bau aufgrund seiner Schmuckfassade eine andere Funktion inne hatte. Der Zoll war ein hoheitliches ulmisch herrschaftliches Gebäude, wogegen der Alte Bau durch seine Funktion als Fruchtkasten eher seinem zweckdienlichen Nutzen nach einfacher gestaltet worden ist.

Eine genaue Datierung der Errichtung dieses stattlichen Gebäudes anstelle des ehemaligen helfensteinischen Zollgebäudes ist nicht genau erwiesen. Ein sicheres Datum seines Bestehens ist das Jahr 1495. Aus anderen Quellen wurde Jahr 1462 erschlossen. In der Stadtgeschichte und in der Denkmalliste heißt es dann ausweichend ‚erbaut wohl in den ersten Jahrzehnten der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts.

Ein wichtiger Hinweis auf diese frühere Datierung des Alten Zolls liefert das Datum 1485. Für dieses Jahr wurde nämlich als Zoller Jos Rupp und sein Gegenschreiber Johannes Lebzelter genannt.

Lebzelter hat neben seinem Brotberuf als Zollschreiber Handschriften literarischer Werke, epische oder dramatische Texte abgefasst oder in erlesener Form kopiert. So war er 1478 der Schreiber der spätmittelalterlich verfassten Sage vom Herzog Friedrich von Schwaben. Diese Sagenüberlieferung ist nur in sieben Handschriften unterschiedlicher Provenienz und inhaltlichem Ausgang der Geschichte erhalten. Lebzelters Exemplar liegt wohl heute noch in der Landesbibliothek Stuttgart und wird als die leserlichste und als die kunstvollste Handschrift betrachtet. Woher Lebzelter die literarische Vorlage bekam und wer die Abschrift bei ihm in Auftrag gegeben hatte, ist unbekannt.

Lebzelter war ansässig hier in Geislingen und Mitglied der Sebastiansbruderschaft. Also gehörte er zu den rechtschaffenen Bürgern der Stadt mit entsprechendem Ansehen. Sein Eintrag im Grundbuch der Sebastiansbruderschaft bezeugt dies mit seiner Berufsangabe ‚yberschreiber‘ gleichbedeutend im Wortsinn von Übertrager oder Kopist, und zusammen mit ‚seiner hussfräwen Barbara Vischerin genannt‘.

1593 wurde der Alte Zoll renoviert und war Amts- und Wohnsitz des Ulmer Zollers. Die oberen Etagen des Gebäudes wurden als Speicher für die Zehnten und Gülten der Geislinger Stadtkirchenpflege genutzt.

Schubartrelief am Schubartschulhaus


Mitte des Oktober 1763 kam Christian Friedrich Daniel Schubart in Geislingen an, um seine hiesige Präzeptorstelle anzutreten, die er nach der vertraglichen Vereinbarung am 12. Oktober in Ulm angenommen hatte. Schweren Herzens hatte er den Weg nach Geislingen eingeschlagen, denn er ließ in Aalen eine Liebschaft hinter sich.

Doch bereits vor seiner Ankunft hier in Geislingen wurde ihm noch in Aalen von einem Musiker ein Gruß von einem unbekannten Mädchen aus Geislingen zugetragen, die die Schwester der begleitenden Weißroßwirtin gewesen sei. Dies war die zweite Tochter des Oberzollers Bühler, der damals im Alten Zoll gewohnt hatte. Schubarts erster Gang nach seiner Ankunft galt demnach dem Oberzoller Bühler, den er am Nachmittag beehrte. Er sei dort zur Verlegenheit der ganzen Familie zuletzt ‚wie eine Bildsäule‘ dasitzend bis Mitternacht geblieben und Schlag 12 Uhr vor den Oberzoller getreten mit den Worten: ‚Herr Oberzoller, ich bekomme heute noch eine Frau … Ihre Helene!‘

Als der Vater Bühler nicht sofort zustimmen wollte, sei Schubart nur durch das Versprechen am anderen Morgen eine Antwort zu bekommen zum Verlassen des Hauses zu bewegen gewesen. Seine Braut stellte er seinen Eltern vor als ‚eine geschickte und tugendhafte Jungfer, 19 Jahre alt, nicht allzureich aber von einer Familie, die mein Glück auf die Zukunft vergrößern wird‘.

Nach dieser stürmischen Verlobung fand die Hochzeit schließlich am 10. Januar 1764, drei Tage vor dem 20. Geburtstag der Braut statt.

Die ulmische Zollstation in Geislingen fand mit der Eingliederung der Reichsstadt Ulm ins Königreich Bayern im Jahre 1803 im Zuge des Reichsdeputationshauptschlusses ihr Ende. In der Folgezeit diente der Zoll hauptsächlich zu Wohn- und Speicherzwecken. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden im Erdgeschoß Läden eingebaut, die bis heute dem Alten Zoll in veränderter Form geblieben sind.

Die letzte Renovierung des Alten Zolls fand 1957/58 nach damaligen Maßgaben des Landesdenkmalamtes statt. Seit kurzem ist die Stadt Eigentümerin des Gebäudes, das nun dringend erneut saniert werden muß – ein Zeichen dafür, dass Häuser in Privatbesitz nicht unbedingt besser erhalten werden als dies die öffentliche Hand zu tun pflegt.