Das Notzental – eine kaum beachtete Talsenke zwischen der
Geislinger Altstadt und dem Seebach – entwickelt sich mit dem Bau des Geislinger
Bahnhofs und der Industrialisierung zu einem zentralen Bindeglied zwischen den
Stadtteilen.
Der Flurname
Im Salbuch des Geislinger Spitals von 1524 wird der
Flurname 'Notzothallin' erwähnt, der wohl von dem Namen Notz herstammt. Es
dürfte sich um die Vornamensverkürzung von Notger zu Notz handeln, die wie
Lutger – Lutz, Konrad – Kunz oder Lukas – Laux lautet. Es ist ungewiss, ob es
sich hier bereits um einen Familiennamen handelt. Vermutlich wurde das
Notzentäle einem Vorbesitzer namens Notz zugeschrieben, der wohl vor 1524
seinen dortigen Besitz dem Geislinger Spital überschrieben hatte.
Die Lage und ihre
Begrenzungen
Das Notzental ist eine flache Talsenke, die sich von der
Hangseite des heutigen Bahnhofareals im Osten zur Eberhardstraße und dem
Verwaltungsgebäude der WMF im Westen hinab zieht. Die südliche Flanke bildet
die Parkstraße und der Stadtpark. Nördlich wird es von der Kaiser-Wilhelm-Straße
begrenzt.
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Urflurkarte von Geislingen, Landesvermessung 1828, NO_10_51 Ausschnitt (Stadtarchiv Geislingen) |
Der Weg von der
Stadt ins Notzental
Zum Notzental gelangte man früher bis in die Mitte des
19. Jhs. von der Stadt Geislingen her zunächst über die Steingrubestraße, die
von der Staatstraße 47 – der heutigen Bahnhofstraße – im spitzen Winkel links
hinab ins untere Rohrachtal und vor dem ehemaligen Martin-Luther-Haus im
rechten Winkel nach links zur Jahnhalle abbiegt. Genau im Winkel führt der
Anstieg des Notzentalwegs aus dem Rohrachtal hinüber zum Notzental und oben
rechts weg zum Bahnhof. Dieser Weg ist seit alters her nachgewiesen und fand
seine Verzeichnung in der Urflurkarte von Geislingen von 1828 (siehe Urflurkarte
NO 10-51) seine erste Dokumentation.
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Der Notzentalweg oder 'Katzenbuckel' (H. Gruber)
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Der 'Katzenbuckel'
Dieser kurze Anstieg aus dem Rohrachtal hinauf zum
Bahnhofsplateau erhielt in den 1930er Jahren einen besonderen Namen. Eine heute
90jährige Frau, die in der Sedanstrasse 10 im Seebach aufgewachsen ist,
erinnert sich daran, dass sie als Schulkinder diesen mühsamen Anstieg des
Notzentalweges auf ihrem Heimweg von der Uhlandschule in den Seebach jeden Tag
bewältigen mussten und ihn deshalb als 'Katzenbuckel' bezeichneten.
Es handelt sich hierbei also keineswegs um einen
ausgewiesenen Gewann- oder Flurnamen, sondern um eine landläufige Bezeichnung
eines Wegstücks, das von Schulkindern als mühseliger Anstieg wahrgenommen wurde.
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Geislingen um 1860, Lithographie von Felix Fleischhauer - Ausschnitt (Kreisarchiv Göppingen) |
Das Notzental um
1860
Die Lithografie von Felix Fleischhauer um 1860 zeigt eine
Ansicht des Rohrachtales von erhöhter Warte. Im Vordergrund sieht man die
baumbestandene Staatsstraße 47 von Stuttgart nach Ulm, den Anstieg des
Altenstädter Bühls hinauf zum neuen, noch außerhalb der Stadt gelegenen Bahnhof
am linken Bildrand. Hinter dem Altenstädter Bühl zieht sich das Wiesengelände
der flachen Talmulde des Notzentals zum unteren Rohrachtal hinab. Im
Talhintergrund ist die damaliger Stadt Geislingen mit der Stadtkirche und dem
Alten Bau erkennbar.
Die allmähliche
Bebauung des Notzentals in drei Phasen
Die erste Phase begann mit der Entstehung des
Bahnhofareals und dem Bau des Geislinger Bahnhofs. 1846/47 wurde die
Geländeböschung hangseitig abgetragen und talwärts aufgefüllt, so dass das
breite Plateau des Bahnhofgeländes entstand. Die Stützmauer hinter den
Gleisanlagen sicherte das Plateau. Vor den beiden Lokschuppen, die über eine
Drehscheibe mit den Gleisanlagen verbunden waren, entstand 1848 bis 1850 das
heutige Empfangsgebäude des Bahnhofs nach den Plänen von Georg Morlok mit
seinem weitläufigen Vorplatz (siehe Lithographie von F. Fleischhauer). Wenig
später entstand ein Güterschuppen, der in den 1980er Jahren zugunsten des
Omnibusbahnhofs abgebrochen wurde.
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Geislinger Bahnhof, um 1860, Lithographie von Felix Fleischhauer Ausschnitt (Kreisarchiv Göppingen)
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In den 1860er Jahren kamen vis-à-vis des
Bahnhofsvorplatzes die ehemalige Bahnhofsrestauration und das Gasthaus zum
Helfenstein mit seinem Biergarten dazu.
Zwischen dem Bahnhof und der WMF wurde zugleich ein
Verbindungsweg geschaffen, der den Notzentalweg kreuzte und zum Fabrikgelände
der WMF hinabführte. Dieser Weg wurde 1902, als der Stadtpark anstelle der
ehemaligen Steingrube entstand, zur heutigen Parkstraße, die damit die südliche
Flanke des Notzentals bildete.
Ab 1880 begann in einer zweiten Phase die Wohnbebauung
entlang der beiden Talflanken. Damals erbaute die WMF an der nördlichen Flanke
des Notzentals entlang der neuen Kaiser-Wilhelm-Straße vier gleichartige
Wohngebäude aus Tuffstein für ihre Werkmeister und ihren Familien. Davor wurde
der talseitige Wiesengrund in Schrebergärten für die dortigen Hausbewohner
umgewandelt.
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WMF Werkswohnungen in der Kaiser-Wilhelm-Straße mit davor liegenden Schrebergärten, erbaut 1880 (Stadtarchiv Geislingen)
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Die Kaiser-Wilhelm-Straße führte den Hang zur
Eberhardstraße hinunter. Auf halber Höhe mündet von Norden her die Hägelestraße
rechtwinklig ein. Rund um die Hägelestraße entstanden gründerzeitliche
Direktorenvillen der WMF. In gleicher Weise wurde um die Jahrhundertwende der
Hügel westlich des Notzentalwegs oberhalb des Stadtparks mit Jugendstilvillen
bebaut.
Der Bahnhofsvorplatz, auf dem seit 1902 die Gleise der Tälesbahn
endeten, erhielt an der Ecke zur Parkstraße mit der stattlichen, 1913 erbauten
Fabrikniederlage der WMF und dem Bahnhotel einen markanten städtebaulichen
Akzent. Das Bahnhotel kam 1953 in den Besitz der Stadt Geislingen, die dort
ihre technischen Ämter einrichteten.
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Täleskätter auf dem Bahnhofsvorplatz, dahinter die 1913 erbaute WMF-Niederlassung und Bahnhotel (Stadtarchiv Geislingen)
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Anstelle des Gasthauses zum Helfenstein entstand
schließlich 1932 vis-à-vis des Bahnhotels an der Parkstraße und zwischen
Bahnhofstraße und Notzentalweg das neue Hauptpostgebäude das heute zur
Fachhochschule Nürtingen-Geislingen gehört.
Die untere Begrenzung des Notzentals bildete die Eberhardstraße,
die ursprünglich nur ein Zufahrtsweg zum WMF-Gelände war und am heutige Tor 1
der WMF endete.
Nachdem die Eberhardstraße, als einstiger Zufahrtsweg zum
Werksgelände der WMF, in den 1920er Jahren vom Städtischen Sportplatz her zur
neuen Hauptverkehrsader bis zur Innenstadt und weiter nach Ulm ausgebaut wurde,
war die westliche Begrenzung des heutigen Notzentals markiert.
Die dritte Phase der Notzentalbebauung begann in der
Nachkriegszeit und hatte ihren Höhepunkt mit der Wirtschaftswunderära in 1960er
Jahren.
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Die beiden KZ-'Sanitäts'-Baracken (Stadtarchiv Geislingen)
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Als unrühmliche Reminiszenz aus der Nazidiktatur standen am
unteren Ende des Notzentals an der Parkstraße zwei
sogenannte 'Sanitätsbaracken', die dem KZ-Außenlager Geislingen zugeordnet
waren und nach 1945 abgebrochen wurden. Hier hatte man von Herbst 1944 bis
Anfang 1945 erkrankte und arbeits-unfähige jüdische Frauen kurzzeitig
untergebracht, bevor sie nach Auschwitz abtransportiert wurden.
1953 fiel die ausgediente Galvanische Kunstanstalt der
WMF der Spitzhacke zum Opfer. Mit dem Abbruchschutt der ehemaligen GB wurde die
unteren Talsenke, diesseits der Eberhardstraße aufgefüllt und danach mit der
kosmetischen Springbrunnenanlage anstelle des heutige WMF-Parkplatzes garniert.
Anstelle der GB wurde ab 1954 ein Neubau für Produktausstellungen und die
Ateliers der WMF errichtet. Wenige Jahre später entstand 1957-1959 das hervorragende
Verwaltungsgebäudes der WMF, das heute als eine architektonische Ikone der
Nachkriegszeit bewertet wird.
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Das WMF-Verwaltungsgebäude, erbaut 1957-1959, mit Springbrunnenanlage (Stadtarchiv Geislingen)
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Weiter oben im Zentrum der Notzentalsenke entstand zur
selben Zeit das neue Gymnasium, das heutige Helfenstein-Gymnasium. Nach der Grundsteinlegung 1956 wurde es nach zweijähriger
Bauzeit 1958 eingeweiht und seiner Bestimmung übergeben. Mit seinem Pausenhof
und dem parkähnlichen Schulgelände gilt es nach wie vor als eines der
elegantesten Gebäude der späten 1950er Jahre in Geislingen.
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Das Helfenstein-Gymnasium, erbaut 1956 - 1958 (H. Gruber) |
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Das ehemalige Wirtschaftsgymnasium, erbaut 1959 - 1961 (H. Gruber)
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Kurze Zeit später wurde 1959 - 1961 das Gebäude der
höheren Handelsschule und des späteren Wirtschaftsgymnasiums, Parkstraße 4,
errichtet und 1962 mit der Einweihung in Betrieb genommen.
Zu guter Letzt kam es 1964 zum Baubeginn und 1965 zur
Grundsteinlegung des Städtischen Hallenbads mit Sporthallen und
angegliederten Sportplatz unterhalb des Helfenstein-Gymnasiums. 1967 eingeweiht,
diente es bis ca. 2014 seiner Bestimmung. Heute ist die fernere
Nutzung des Gebäudes nach wie vor ungeklärt.
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Städtisches Hallenbad, erbaut 1964 - 1967 (H. Gruber)
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Seit den 1990er Jahren begann eine tiefgreifende
Strukturveränderung in der Stadt Geislingen. Als Zeichen des Neubeginns wurden 1993
in Geislingen zwei Fachhochschul-Außenstellen eingerichtet. Zunächst wurde die
Außenstelle Ulm im ehemaligen Wirtschaftsgymnasium untergebracht. Nachdem diese
Außenstelle aufgelöst wurde, quartierte sich die heutige Fachhochschule
Nürtingen-Geislingen im Gebäude Parkstraße 4 ein. Zusammen mit der ehemaligen
Gewerbeschule am Altenstädter Bühl und dem einstigen Hauptpostgebäude in der
Bahnhofstraße bilden diese drei Gebäudekomplexe zusammen die Fachhochschule in
Geislingen.