Samstag, 13. Februar 2021

Das Notzental – eine flache Talsenke mitten in der Stadt

 

Das Notzental – eine kaum beachtete Talsenke zwischen der Geislinger Altstadt und dem Seebach – entwickelt sich mit dem Bau des Geislinger Bahnhofs und der Industrialisierung zu einem zentralen Bindeglied zwischen den Stadtteilen.

Der Flurname

Im Salbuch des Geislinger Spitals von 1524 wird der Flurname 'Notzothallin' erwähnt, der wohl von dem Namen Notz herstammt. Es dürfte sich um die Vornamensverkürzung von Notger zu Notz handeln, die wie Lutger – Lutz, Konrad – Kunz oder Lukas – Laux lautet. Es ist ungewiss, ob es sich hier bereits um einen Familiennamen handelt. Vermutlich wurde das Notzentäle einem Vorbesitzer namens Notz zugeschrieben, der wohl vor 1524 seinen dortigen Besitz dem Geislinger Spital überschrieben hatte.

Die Lage und ihre Begrenzungen

Das Notzental ist eine flache Talsenke, die sich von der Hangseite des heutigen Bahnhofareals im Osten zur Eberhardstraße und dem Verwaltungsgebäude der WMF im Westen hinab zieht. Die südliche Flanke bildet die Parkstraße und der Stadtpark. Nördlich wird es von der Kaiser-Wilhelm-Straße begrenzt.

Urflurkarte von Geislingen, Landesvermessung 1828, NO_10_51 Ausschnitt (Stadtarchiv Geislingen)


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Weg von der Stadt ins Notzental

Zum Notzental gelangte man früher bis in die Mitte des 19. Jhs. von der Stadt Geislingen her zunächst über die Steingrubestraße, die von der Staatstraße 47 – der heutigen Bahnhofstraße – im spitzen Winkel links hinab ins untere Rohrachtal und vor dem ehemaligen Martin-Luther-Haus im rechten Winkel nach links zur Jahnhalle abbiegt. Genau im Winkel führt der Anstieg des Notzentalwegs aus dem Rohrachtal hinüber zum Notzental und oben rechts weg zum Bahnhof. Dieser Weg ist seit alters her nachgewiesen und fand seine Verzeichnung in der Urflurkarte von Geislingen von 1828 (siehe Urflurkarte NO 10-51) seine erste Dokumentation.

 

Der Notzentalweg oder 'Katzenbuckel' (H. Gruber)

Der 'Katzenbuckel'

Dieser kurze Anstieg aus dem Rohrachtal hinauf zum Bahnhofsplateau erhielt in den 1930er Jahren einen besonderen Namen. Eine heute 90jährige Frau, die in der Sedanstrasse 10 im Seebach aufgewachsen ist, erinnert sich daran, dass sie als Schulkinder diesen mühsamen Anstieg des Notzentalweges auf ihrem Heimweg von der Uhlandschule in den Seebach jeden Tag bewältigen mussten und ihn deshalb als 'Katzenbuckel' bezeichneten.

Es handelt sich hierbei also keineswegs um einen ausgewiesenen Gewann- oder Flurnamen, sondern um eine landläufige Bezeichnung eines Wegstücks, das von Schulkindern als mühseliger Anstieg wahrgenommen wurde.

 


Geislingen um 1860, Lithographie von Felix Fleischhauer - Ausschnitt (Kreisarchiv Göppingen)



 

Das Notzental um 1860

Die Lithografie von Felix Fleischhauer um 1860 zeigt eine Ansicht des Rohrachtales von erhöhter Warte. Im Vordergrund sieht man die baumbestandene Staatsstraße 47 von Stuttgart nach Ulm, den Anstieg des Altenstädter Bühls hinauf zum neuen, noch außerhalb der Stadt gelegenen Bahnhof am linken Bildrand. Hinter dem Altenstädter Bühl zieht sich das Wiesengelände der flachen Talmulde des Notzentals zum unteren Rohrachtal hinab. Im Talhintergrund ist die damaliger Stadt Geislingen mit der Stadtkirche und dem Alten Bau erkennbar.

 

Die allmähliche Bebauung des Notzentals in drei Phasen

Die erste Phase begann mit der Entstehung des Bahnhofareals und dem Bau des Geislinger Bahnhofs. 1846/47 wurde die Geländeböschung hangseitig abgetragen und talwärts aufgefüllt, so dass das breite Plateau des Bahnhofgeländes entstand. Die Stützmauer hinter den Gleisanlagen sicherte das Plateau. Vor den beiden Lokschuppen, die über eine Drehscheibe mit den Gleisanlagen verbunden waren, entstand 1848 bis 1850 das heutige Empfangsgebäude des Bahnhofs nach den Plänen von Georg Morlok mit seinem weitläufigen Vorplatz (siehe Lithographie von F. Fleischhauer). Wenig später entstand ein Güterschuppen, der in den 1980er Jahren zugunsten des Omnibusbahnhofs abgebrochen wurde.

Geislinger Bahnhof, um 1860, Lithographie von Felix Fleischhauer Ausschnitt (Kreisarchiv Göppingen)

 

In den 1860er Jahren kamen vis-à-vis des Bahnhofsvorplatzes die ehemalige Bahnhofsrestauration und das Gasthaus zum Helfenstein mit seinem Biergarten dazu.

Zwischen dem Bahnhof und der WMF wurde zugleich ein Verbindungsweg geschaffen, der den Notzentalweg kreuzte und zum Fabrikgelände der WMF hinabführte. Dieser Weg wurde 1902, als der Stadtpark anstelle der ehemaligen Steingrube entstand, zur heutigen Parkstraße, die damit die südliche Flanke des Notzentals bildete.

Ab 1880 begann in einer zweiten Phase die Wohnbebauung entlang der beiden Talflanken. Damals erbaute die WMF an der nördlichen Flanke des Notzentals entlang der neuen Kaiser-Wilhelm-Straße vier gleichartige Wohngebäude aus Tuffstein für ihre Werkmeister und ihren Familien. Davor wurde der talseitige Wiesengrund in Schrebergärten für die dortigen Hausbewohner umgewandelt.

WMF Werkswohnungen in der Kaiser-Wilhelm-Straße mit davor liegenden Schrebergärten, erbaut 1880 (Stadtarchiv Geislingen)

Die Kaiser-Wilhelm-Straße führte den Hang zur Eberhardstraße hinunter. Auf halber Höhe mündet von Norden her die Hägelestraße rechtwinklig ein. Rund um die Hägelestraße entstanden gründerzeitliche Direktorenvillen der WMF. In gleicher Weise wurde um die Jahrhundertwende der Hügel westlich des Notzentalwegs oberhalb des Stadtparks mit Jugendstilvillen bebaut.

Der Bahnhofsvorplatz, auf dem seit 1902 die Gleise der Tälesbahn endeten, erhielt an der Ecke zur Parkstraße mit der stattlichen, 1913 erbauten Fabrikniederlage der WMF und dem Bahnhotel einen markanten städtebaulichen Akzent. Das Bahnhotel kam 1953 in den Besitz der Stadt Geislingen, die dort ihre technischen Ämter einrichteten.

Täleskätter auf dem Bahnhofsvorplatz, dahinter die 1913 erbaute WMF-Niederlassung und Bahnhotel (Stadtarchiv Geislingen)

Anstelle des Gasthauses zum Helfenstein entstand schließlich 1932 vis-à-vis des Bahnhotels an der Parkstraße und zwischen Bahnhofstraße und Notzentalweg das neue Hauptpostgebäude das heute zur Fachhochschule Nürtingen-Geislingen gehört.

Die untere Begrenzung des Notzentals bildete die Eberhardstraße, die ursprünglich nur ein Zufahrtsweg zum WMF-Gelände war und am heutige Tor 1 der WMF endete.

Nachdem die Eberhardstraße, als einstiger Zufahrtsweg zum Werksgelände der WMF, in den 1920er Jahren vom Städtischen Sportplatz her zur neuen Hauptverkehrsader bis zur Innenstadt und weiter nach Ulm ausgebaut wurde, war die westliche Begrenzung des heutigen Notzentals markiert.

Die dritte Phase der Notzentalbebauung begann in der Nachkriegszeit und hatte ihren Höhepunkt mit der Wirtschaftswunderära in 1960er Jahren.

 

Die beiden KZ-'Sanitäts'-Baracken (Stadtarchiv Geislingen)
Als unrühmliche Reminiszenz aus der Nazidiktatur standen am unteren Ende des Notzentals an der Parkstraße zwei sogenannte 'Sanitätsbaracken', die dem KZ-Außenlager Geislingen zugeordnet waren und nach 1945 abgebrochen wurden. Hier hatte man von Herbst 1944 bis Anfang 1945 erkrankte und arbeits-unfähige jüdische Frauen kurzzeitig untergebracht, bevor sie nach Auschwitz abtransportiert wurden.

1953 fiel die ausgediente Galvanische Kunstanstalt der WMF der Spitzhacke zum Opfer. Mit dem Abbruchschutt der ehemaligen GB wurde die unteren Talsenke, diesseits der Eberhardstraße aufgefüllt und danach mit der kosmetischen Springbrunnenanlage anstelle des heutige WMF-Parkplatzes garniert. Anstelle der GB wurde ab 1954 ein Neubau für Produktausstellungen und die Ateliers der WMF errichtet. Wenige Jahre später entstand 1957-1959 das hervorragende Verwaltungsgebäudes der WMF, das heute als eine architektonische Ikone der Nachkriegszeit bewertet wird.


Das WMF-Verwaltungsgebäude, erbaut 1957-1959, mit Springbrunnenanlage (Stadtarchiv Geislingen)

Weiter oben im Zentrum der Notzentalsenke entstand zur selben Zeit das neue Gymnasium, das heutige Helfenstein-Gymnasium. Nach der Grundsteinlegung 1956 wurde es nach zweijähriger Bauzeit 1958 eingeweiht und seiner Bestimmung übergeben. Mit seinem Pausenhof und dem parkähnlichen Schulgelände gilt es nach wie vor als eines der elegantesten Gebäude der späten 1950er Jahre in Geislingen.

 

Das Helfenstein-Gymnasium, erbaut 1956 - 1958 (H. Gruber)


Das ehemalige Wirtschaftsgymnasium, erbaut 1959 - 1961 (H. Gruber)






Kurze Zeit später wurde 1959 - 1961 das Gebäude der höheren Handelsschule und des späteren Wirtschaftsgymnasiums, Parkstraße 4, errichtet und 1962 mit der Einweihung in Betrieb genommen.


Zu guter Letzt kam es 1964 zum Baubeginn und 1965 zur Grundsteinlegung des Städtischen Hallenbads mit Sporthallen und angegliederten Sportplatz unterhalb des Helfenstein-Gymnasiums. 1967 eingeweiht, diente es bis ca. 2014 seiner Bestimmung. Heute ist die fernere Nutzung des Gebäudes nach wie vor ungeklärt.


Städtisches Hallenbad, erbaut 1964 - 1967 (H. Gruber)




Seit den 1990er Jahren begann eine tiefgreifende Strukturveränderung in der Stadt Geislingen. Als Zeichen des Neubeginns wurden 1993 in Geislingen zwei Fachhochschul-Außenstellen eingerichtet. Zunächst wurde die Außenstelle Ulm im ehemaligen Wirtschaftsgymnasium untergebracht. Nachdem diese Außenstelle aufgelöst wurde, quartierte sich die heutige Fachhochschule Nürtingen-Geislingen im Gebäude Parkstraße 4 ein. Zusammen mit der ehemaligen Gewerbeschule am Altenstädter Bühl und dem einstigen Hauptpostgebäude in der Bahnhofstraße bilden diese drei Gebäudekomplexe zusammen die Fachhochschule in Geislingen.